Bettina, ihr arbeitet im LAB mit dem User Centered Design, kurz UCD, Ansatz. Was ist das?

Bettina Kammermann

User Centered Design – auch bekannt als Design Thinking – ist eine Arbeitsmethode und Denkhaltung, die den Kunden konsequent ins Zentrum stellt, wenn es darum geht, ein neues Angebot zu entwickeln. Eine Dienstleistung oder ein Produkt wird nicht einfach kreiert, weil es beispielsweise technisch machbar ist, sondern weil es für den Kunden relevant ist und ein echtes Problem für ihn löst.

Um auf das Zitat von Henry Ford zurückzukommen: Die Kunden wissen doch oft gar nicht, was sie wollen? Absolut! Bei UCD geht es auch nicht darum, die Kunden nach der Lösung zu fragen, denn diese kennen sie in der Tat oft nicht genau. Doch sie wissen, was sie stört. Im Falle von Henry Ford wäre dies wohl, dass es damals langsam und mühselig war, mit dem Pferd von A nach B zu kommen. Wir haben das Gefühl, dass wir genau wissen, was die Kundin oder der Kunde braucht oder will. Mit diesen Annahmen gehen wir schnell ins Konzeptionieren und Entwickeln von Lösungen und Angeboten, die wir dann am Tag X lancieren, ohne sie jemals mit Kunden getestet zu haben.

Wie kann man sich die Arbeitsweise eures Teams vorstellen?
Wir arbeiten im Bereich UCD in drei Prozessschritten.

  • «Hear» (dt.: hören). Alles, was wir in dieser Phase tun, verhilft uns zu einem besseren Verständnis der Projektausgangslage und der Kunden. Das kann über Kundeninterviews und -beobachtungen, durch Analysen von Studien und Forschungsergebnissen oder auch durch Konkurrenzanalysen geschehen. Dies alles mit dem Ziel, eine Problemstellung aus Kundensicht zu formulieren: Wo drückt der Schuh beim Kunden? Wichtig ist hier, dass man noch nicht in Lösungen denkt.
  • «Create» (dt.: kreieren). Mit unterschiedlichen Kreativtechniken generieren wir potenzielle Lösungen für das Problem und fokussieren uns dann auf die vielversprechendste.
  • «Deliver» (dt.: liefern). Hier geht es darum, unsere Ideen durch Prototypen begreifbar zu machen und mit Kunden zu testen. Denn unsere Ideen beruhen ja vorerst auf Annahmen. Prototyping hilft, diese Annahmen rasch und kostengünstig zu prüfen, bevor viel Geld für die Entwicklung ausgegeben wird, wie beispielsweise durch das Programmieren einer App.

Grafik UCD

Wie können wir uns solche Prototypen vorstellen?
Ein Prototyp kann vieles sein! Wichtig: UCD ist ein iterativer Prozess, das heisst, wir nähern uns schrittweise einer Lösung an. Indem wir unsere Idee früh und oft testen, erhalten wir im Projektverlauf aussagekräftige Entscheidungsgrundlagen. Iteratives Vorgehen ist somit auch aktives Risikomanagement: Es besteht immer das Risiko, das falsche «Ding» zu bauen. Je nachdem, wie weit wir in dieser «Deliver»-Phase sind, eignen sich verschiedene Arten von Prototypen. Um eine erste Idee verständlich zu machen, kann ein einfacher Marketing-Flyer, ein Video mit der Produktidee oder auch ein klickbarer Prototyp eines digitalen Produktes erstellt und mit potenziellen Kunden getestet werden. Über mehrere Testrunden werden so Aussehen und Funktionen des Prototyps immer verbindlicher.

Ist die UCD-Methode denn repräsentativ? Kann man damit allgemeingültige Antworten erzeugen?
Wichtig ist auch da zu wissen, in welcher Phase eines Projekts wir uns befinden und welchen Informationsbedarf wir haben. Wenn wir am Anfang eines Innovationsprozesses stehen, dann bringt es nichts, eine Befragung mit 1000 Leuten durchzuführen. In dieser Phase geht es eher darum, tiefe Erkenntnisse zu generieren, zum Beispiel über Kundeninterviews oder -beobachtungen. Damit erhalten wir Aussagen und Inspirationen für vielversprechende Ideen- oder Problemfelder. Oder wir haben eine bestehende Applikation und wollen wissen, ob der Nutzer sein Ziel damit erreicht. Dann machen wir einen Usability-Test mit fünf bis sieben Teilnehmenden. Diese decken bereits ca. 80 Prozent der Probleme auf. Da lohnen sich mehr Probanden gar nicht.

Wenn es in einer späteren Phase dann darum geht, statistisch aussagekräftige Daten zu erhalten, um beispielsweise herauszufinden, wie gross eine mögliche Zielgruppe ist, dann muss man natürlich mehr Leute befragen.

Clyde, das Auto-Abo

Für freiheitsliebende Autofahrer, die ihren Autobedarf nicht langfristig planen können oder mögen, bietet das Auto-Abo Clyde die Lösung. Mit einem breiten Angebot an attraktiven und sofort verfügbaren Fahrzeugen, die nach kurzer Mindesthaltedauer von drei Monaten jederzeit monatlich kündbar sind, erhalten die Kunden maximale Flexibilität und klar kalkulierbare Kosten und das bei höchstem Fahrspass. Clyde ist aktuell  nur in der Deutschschweiz verfügbar.

Mehr auf www.clyde-now.ch

Kannst du die UCD-Schritte anhand eines Beispielprojekts aufzeigen?
Ja, gerne! Nehmen wir dazu Clyde, das Auto-Abo, das im LAB entwickelt wurde. Wir lösen mit Clyde das Problem der langfristigen Gebundenheit im Autobesitz. Es gibt Leute, die es stresst, dass sie sich durch Kauf oder Leasing langfristig an ein Fahrzeug binden müssen. Wir haben in der «Hear»-Phase bestehende Lösungen im Ausland intensiv studiert und Interviews mit Experten geführt und dann in einem zweiten Schritt über eine quantitative Befragung ein mögliches Potenzial und Basiserwartungen an ein Auto-Abo im Schweizer Markt erfragt. Vor allem hat uns interessiert, welche Zielgruppe besonders affin für ein solches Angebot ist. Aus all diesen Erkenntnissen haben wir als Team definiert, welche  Eckpunkte eines möglichen Angebots nicht verhandelbar sind: Einfachheit, Transparenz und Flexibilität.

Mit diesem Wissen haben wir uns in der «Create»-Phase in einem Raum eingeschlossen und unseren Ideen, freien Lauf gelassen. Dann haben wir unsere Value-Proposition (dt.: Werte- oder Nutzenversprechen) und erste Produktfeatures mit potenziellen Kunden getestet und geschärft. Parallel dazu führten wir natürlich viele Diskussionen und trafen Abklärungen, wie die AMAG mit dem angedachten Modell Geld verdienen kann und wie wir dieses technologisch und organisatorisch umsetzen können.

In der «Deliver»-Phase haben wir nicht einfach drauflosentwickelt, sondern uns – über klickbare Prototypen, die wir ebenfalls wieder mit Kunden getestet haben – dem finalen User Interface (dt.: Benutzeroberfläche) angenähert. Auch hier haben wir aktives Risikomanagement betrieben: Ist es doch bis zu hundertmal teurer, ein Problem zu beheben, wenn eine Webseite erst einmal codiert ist. Und auch nach der Markteinführung ist das iterative Vorgehen nicht vorbei. Das «build, measure, learn» (dt.: Bauen, Messen, Lernen) geht hier genauso weiter.

Wenn ich dies nun erzähle, klingen die Schritte sehr einfach und banal. Wir haben uns hier als Team vor allem in der ersten Phase gerieben und viel diskutiert, da unterschiedliche, aber sehr wertvolle Perspektiven aufeinandergetroffen sind. Wir hatten aber danach ein gemeinsames und vor allem gefestigtes Problemverständnis und «Glaubensgrundsätze». Das hat uns in der «Deliver»-Phase ermöglicht, vollen Fokus zu haben und enorme Geschwindigkeit in die Sache zu bringen, so dass wir nach dem offiziellen Go innerhalb von sechs Wochen mit Clyde auf dem Markt waren .

Ist der UCD Ansatz nur eine Modeerscheinung?
Auf keinen Fall. Die immer stärkere Verbreitung dieser Arbeitsform, die den Kunden und sein Erlebnis konsequent ins Zentrum stellt, hängt mit der Digitalisierung unseres Alltags zusammen. Der Kunde hat die Macht über Erfolg oder Misserfolg von Produkten und Unternehmen. Er kauft das Angebot, das sein Bedürfnis am besten befriedigt. Und vor allem vergleicht er seine Kundenerlebnisse: Wenn er von Amazon oder Airbnb gewohnt ist, mit wenigen Klicks zum Ziel zu kommen und einen Hammer-Kundenservice zu erleben, dann ist das auch der Gradmesser für uns. Zudem kann er seine Erfahrung dank der Vernetzung mit der ganzen Welt teilen und beeinflusst so andere potenzielle Kunden.

Die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens ist zentraler als je zuvor. Gerade in diesem Bereich kommen traditionelle Anbieter immer stärker unter Druck, da sich kleine Firmen und Start-ups etablieren, die ihnen ihre Kunden streitig machen. Schnelle, adaptive und kundenzentrierte Organisationen sind die Champions der Zukunft. Und gerade hier kann UCD einen wichtigen Beitrag liefern.

Wir haben nun viel über Kundenbedürfnisse gesprochen. Was ist aber mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Unternehmens? Geld verdienen wollen wir damit ja auch?
(Lacht). Das will ich ja schwer hoffen. UCD geschieht nicht im luftleeren Raum! Die Dimensionen Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind ebenso wichtig. Denn wirklich erfolgversprechende Innovationen und Angebote ergeben sich genau in diesem «sweet spot» von Kundennutzen, Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit (Anm. d. Red.: Wenn sich etwas im sweet spot befindet, hat es bzw. erhält es eine optimale Wirkung).

Das AMAG Innovation & Venture LAB

Das LAB wurde im Herbst 2018 von der AMAG gegründet. Rund 20 Mitarbeitende arbeiten im Co-Workingspace Westhive in der Nähe der Zürcher Hardbrücke an neuen eigenständigen Geschäftsmodellen aus dem Mobilitätsbereich.

Fragen ans LAB? Kontaktiere das Team unter lab@amag.ch.
Mehr zum LAB: amag-group.ch/lab

Weitere Artikel auf dem Blog zum Thema Technologie & Innovation:

Was kann autonomes Fahren leisten?
Clyde – Auto-Abo ganz einfach
Mikromobilität: E-Bikes und E-Scooter als Konkurrenz zum Auto?
Wie sieht die Zukunft der Mobilität aus?
Autonomes Fahren von damals bis heute
Abo-Modelle im Automobilbereich
Künstliche Intelligenz: Die Zukunft lernt selbstständig
«Eine Smart City ist vergleichbar mit einem Bienenstock»

Mehr Artikel zum Thema Technologie & Innovation

Fügen Sie Ihren Kommentar hinzu

Es gibt noch keine Kommentare.